Analytics Wednesday: Leon Draisaitl, die Entwicklung eines Superstars
Er ist schon jetzt der punktemäßig beste deutsche NHL-Spieler aller Zeiten und er ist gerade einmal 26 Jahre jung: Leon Draisaitl verzückt auch 2021/22 die Eishockey-Welt. Anfang dieser Woche erreichte er gleich zwei Marken: 50 Tore und 100 Scorerpunkte. Elite Prospects Rinkside nimmt das zum Anlass, um die steile Karriere des gebürtigen Kölners am Analytics Wednesday zu betrachten, Entwicklungsschritte zu skizzieren und seine Zahlen zu analysieren.
Es passierte am Montagabend in Orange County: Beim 6:1-Auswärtssieg der Edmonton Oilers bei den Anaheim Ducks schlug Leon Draisaitl mit einem Tor und einem Assist zu (1-1-2). Damit schraubte er sein Konto auf 50 Tore und 101 Scorerpunkte in der laufenden Saison 2021/22.
„Ich bin natürlich stolz und sehr glücklich darüber, keine Frage“, sagte der deutsche Mittelstürmer hinterher. Über eigene Erfolge, Auszeichnungen oder Meilensteine zu sprechen, fällt dem 26-Jährigen sichtlich schwer. So verwunderte es auch in diesem Fall nicht, dass der Teamplayer noch Teil zwei der Antwort parat hatte: „Es zeigt aber auch, wie großartig meine Teamkollegen sind, oder? Sie sind diejenigen, die mich in diesen Situationen in Szene setzen. Sie sind diejenigen, die mir den Puck in den richtigen Momenten geben. Wir haben so eine selbstlose Mannschaft hier. Es macht Spaß, ein Teil davon zu sein.“
Deutlich euphorischer klang da schon Oilers-Trainer Jay Woodcroft, der die Leistung seines Superstars hervorhob: „Es ist etwas ganz Besonderes, in dieser Liga 50 Tore zu schießen, und es ist etwas ganz Besonderes, die 100-Punkte-Marke zu erreichen. Ich habe das auch über Connor (McDavid) gesagt, als er es kürzlich geschafft hat. Ich weiß, dass Leon alles daransetzt, unser Team auf 100 Punkte zu bringen. Das ist es, was ihn motiviert.“
Hunger und Konstanz: Draisaitl, die Punktemaschine
Bis Edmonton die Marke von 100 Punkten erreicht, muss es in den verbleibenden elf Hauptrunden-Spielen noch 13 Zähler sammeln. Die ultimativen Triebfedern der Oilers sind ganz unbestritten der derzeit führende NHL-Top-Scorer Connor McDavid (41-65-106) und Draisaitl (50-51-101), der aktuell Dritte in der Scorer-Wertung.
Leon Draisaitl und Connor McDavid sind die absoluten Triebfedern der Oilers und Ligaweit ein gefürchtetes Duo Ed Mulholland-USA TODAY Sports
Der gebürtige Kölner schoss außerdem ligaweit die zweitmeisten Tore (50, hinter Auston Matthews mit 54), erzielte die meisten Siegtreffer (10, wie Chris Kreider), die zweitmeisten Powerplay-Tore (20, hinter Kreider mit 25), die zweitmeisten Powerplay-Punkte (36, hinter McDavid mit 39) und spult mit durchschnittlich 22:40 Minuten die meiste Eiszeit unter allen Stürmern ab. Im Powerplay erhielt er übrigens die zweitmeiste Eiszeit (272:13 Minuten, hinter Alexander Ovechkin mit 319:17).
Diese Zahlen zeigen: Draisaitl zählt längst zur ultimativen Eishockey-Elite auf diesem Planeten. Es ist aber auch sein Hunger und seine Konstanz, die ihn in die Superlative katapultieren: Der Center kann momentan eine Scoring-Serie von zwölf Spielen vorweisen (12-10-22 seit dem 12. März 2022). Es ist seine längste Punkteserie in der laufenden Saison, zuvor lag sein persönlicher Rekord bei zweimal sechs Spielen (22. Oktober bis 5. November 2021 und 15. Februar bis 26. Februar 2022).
Leon Draisaitl kann im Moment eine Scoring-Serie von zwölf Spielen vorweisen Perry Nelson-USA TODAY Sports
Noch nicht nur innerhalb eines Jahres, sondern auch über seine Karriere punktet Draisaitl wie am Fließband: Schon zum dritten Mal durchbrach er die Schallmauer von 100 Scorerpunkten (2018/19, 2019/20 und 2021/22), zum zweiten Mal gelangen ihm 50 Treffer (2018/19 und 2021/22). Behält der Linksschütze diese Pace bei, würde er seine bislang beste NHL-Saison gespielt haben und käme auf eine 58-59-117-Ausbeute.
Vom Spielmacher zum Scharfschützen
Dass Draisaitl über ein Elite-Talent und Scoring-Touch verfügt, war freilich schon im Junioren-Bereich zu erkennen. Alleine in der Schüler-Bundesliga-Saison 2010/11 markierte er unfassbare 192 Scorerpunkte (97-95-192) in 29 Spielen, was eine Schnitt von 6,6 Punkten pro Spiel ergab. Beeidruckend ist vor allem die Entwicklung des Angreifers auf allerhöchstem Niveau.
Draisaitl wurde im Draft 2014 in der 1. Runde an 3. Stelle von Edmonton ausgewählt. In mittlerweile fast acht Spielzeiten in der NHL sollte er klangvolle Spieler seines Draft-Jahrgangs wie David Pastrnak (238-260-498, Boston Bruins, 25. Stelle) oder Brayden Point (166-198-364, 79. Stelle) genauso abhängen wie die vor ihm gedrafteten Aaron Ekblad (97-194-291, Florida Panthers, 1st overall) und Sam Reinhart (160-203-363, Buffalo Sabres, 2nd overall).
In seiner ersten NHL-Saison 2014/15 schnupperte Draisaitl in 37 Spielen erstmals Profi-Luft (2-7-9), wurde aber zu den Kelowna Rockets in der Juniorenliga WHL zurückgeschickt. Seiner Entwicklung hat das nicht geschadet, fortan nämlich sammelte der Kölner in jedem Jahr mindestens 50 Scorerpunkte. Schon bei seinen ersten Schritten auf der NHL-Bühne fiel auf: Dieser junge Deutsche hat ein unglaubliches Spielverständnis und spielt bessere Pässe als die meisten seiner Kollegen. Egal in welcher Spielsituation, Draisaitl hatte das Auge für den am besten postierten Mitspieler und schmetterte die Scheibe druckvoll und präzise genau aufs Tape. Nicht umsonst galt er damals als aufstrebender Spielmacher. In deutschen Medien waberte der Spitzname „der deutsche Gretzky“ durch die Artikel – in Nordamerika war dies eher unbekannt und sollte sich schlussendlich genauso wenig durchsetzen wie in seinem Heimatland.
Leon Draisaitl in seiner Rookie-Saison (2014-15) BILDBYRÅN/Larry MacDougal
Draisaitl machte sein eigenes Ding und entwickelte sich stetig weiter. Angefangen bei seiner Physis: Seine 1,89 Meter und 94 Kilogramm wusste der Mittelstürmer immer besser einzusetzen. Das Abschirmen des Pucks wurde schnell zu einer Spezialität. Dank hartem Training folgte ein besseres Bully-Spiel: Gewann Draisaitl in seinen ersten drei NHL-Jahren noch weniger als die Hälfte der Faceoffs, verzeichnet er seit 2017/18 immer Werte über 50 Prozent. Zur Saison 2018/19 wurde aus dem genialen Spielmacher plötzlich auch ein gefürchteter Scharfschütze: 50-mal knipste der Center die Torlampe an und verpasste die Maurice Richard Trophy für den besten Torjäger nur um eine einzige Bude – Alexander Ovechkin (Washington Capitals) nämlich hatte 51-mal getroffen.
Sergei Belski-USA TODAY Sports
2019/20 musste Draisaitl dann anbauen: Mit 110 Scorerpunkten ballerte sich Draisaitl zum Top-Scorer der NHL und räumte die Art Ross Trophy ab. Doch damit nicht genug: Von Journalisten (Hart Trophy) und Mitspielern (Ted Lindsay Award) wurde er auch noch zum doppelten MVP (wertvollster Spieler) ausgezeichnet. Den folgenden Medien-Hype schmetterte der Kölner schon damals mit dem Verweis auf seine Mitspieler und das große Ziel namens Stanley Cup ab.
Draisaitl räumt ab, schreibt Geschichte und entwickelt sich weiter
Die Entwicklung aber ging weiter. Draisaitl emanzipierte sich von einer Rolle neben McDavid und centerte über weite Strecken auch eine eigene Reihe. Auch übernahm er defensiv viel mehr Verantwortung: Hatte er in seiner Super-Saison 2019/20 trotz des Top-Scorer-Titels einen Plus-Minus-Wert von -7, steigerte er sich im Folgejahr 2020/21 auf +29, was den ligaweit den zweitbesten Wert bedeutete. Weder sein Torriecher noch sein Scoring-Touch wurde davon negativ beeinflusst – Draisaitl punktete einfach weiter. So überraschte es nicht, dass er in eben dieser Spielzeit auch Marco Sturm als besten deutschen NHL-Scorer aller Zeiten ablöste.
Draisaitls Hunger aber scheint längst noch nicht gestillt. In der laufenden Saison 2021/22 überholte der 26-Jährige auch Sturm als besten deutschen NHL-Torjäger und könnte am Ende wieder ganz groß abräumen: Die Maurice Richard Trophy (Top-Torjäger), die Art Ross Trophy (Top-Scorer), die Hart Trophy (MVP) und der Ted Lindsay Award (MVP, von der NHLPA gewählt) sind zum Greifen nahe.
Leon Draisaitl bricht Rekorde im Eiltempo Geoff Burke-USA TODAY Sports
Das alles – und das betont der bescheidene Angreifer immer wieder – wäre nichts im Vergleich zu einem Stanley Cup. Genau das ist und bleibt Draisaitls erklärtes Ziel.
Wie schwer ist Draisaitls Verletzung?
Die Oilers hoffen, dieses Jahr einen Mix gefunden zu haben der auch in den Stanley Cup Playoffs funktionieren könnte. Trotz der Superstars McDavid und Draisaitl schaffte es Edmonton nie weiter als in die 2. Runde. Gar viermal in den letzten sieben Jahren wurden die Playoffs sogar verpasst (sogar fünfmal, wenn man das Aus in der Qualifikationsrunde 2019/20 dazuzählt).
Dieses Szenario gilt es im Endspurt der regulären Saison nun abzuwenden. Als Zweiter der Pacific Division treffen die Oilers am Donnerstag (Freitag, 4.30 Uhr MEZ) auf die drittplatzierten Los Angeles Kings. Ob Draisaitl in L.A. überhaupt auflaufen kann, ist fraglich.
Schon im Spiel in Anaheim schied Draisaitl zwischenzeitlich angeschlagen aus, kehrte aber später zurück. Die folgende Auswärtspartie bei den San Jose Sharks (2:1) verpasste er komplett. Nur eine Vorsichtsmaßnahme, um ihn für das so wichtige Spiel bei den Kings zu schützen oder doch eine größere Verletzung? Edmonton bangt um seinen Superstar – und auch Deutschland und die gesamte Eishockey-Welt wird ganz genau hinschauen.
Leon Draisaitl erreichte vergangene Woche erneut die 100. Punkte-Marke in der NHL Sergei Belski-USA TODAY Sports