Keine Superstars: Seattle setzt beim Expansion Draft auf Charakter
Vor dem Expansion Draft 2021 blieben viele große Namen ungeschützt. Die Seattle Kraken aber wählten keinen einzigen Superstar aus, sondern legten den Fokus auf den Charakter und die Arbeitseinstellung ihrer Spieler. Geht diese Rechnung auf?
Carey Price, Frederik Andersen oder Braden Holtby im Tor. Dougie Hamilton, Tyson Barrie oder P.K. Subban in der Verteidigung. Alexander Ovechkin, Vladimir Tarasenko oder Gabriel Landeskog im Sturm. Die Liste an potenziellen Superstars für die Kraken war lang – doch Seattle wählte im Expansion Draft keinen einzigen dieser großen Namen aus.
Stattdessen wählte das 32. NHL-Team einen komplett anderen Ansatz, wählten größtenteils keine langfristigen und teuren Verträge, sondern setzten auf Spieler mit Entwicklungspotenzial, Arbeitseinstellung und Charakter. „Wir haben einen guten Mix aus verschiedenen Fähigkeiten für verschiedene Positionen, haben tonnenweise Charakter und Wettbewerbsfähigkeit an Bord. Das ist eine großartige Ausgangslage“, sagte Kraken-Coach Dave Hakstol.
Unter den insgesamt 30 Picks waren 15 Stürmer, zwölf Verteidiger und drei Torhüter. Die Spieler haben einen Altersdurchschnitt von gerade einmal 26,2 Jahren und kommen aus sechs verschiedenen Ländern: Kanada (19), USA (6), Schweden (2), Tschechien, Dänemark und Finnland (je 1).
Sturm: Seattle hofft auf den Vegas-Effekt
Dieser durchaus mutige Weg birgt Entwicklungspotenziale genauso wie gewisse Risiken: Auf dem Papier scheint es dem Kader insbesondere an Torgefahr zu fehlen. Das zeigt der Blick auf den Sturm, wo Jordan Eberle (New York Islander), Joonas Donskoi (Colorado Avalanche) und Yanni Gourde (Tampa Bay Lightning) die klangvollsten Angreifer sind. Auch in der Tiefe verfügt Seattle vor allem über Zwei-Wege-Stürmer, die für Kampf und Arbeitseifer stehen. Die einzige Frage bleibt: Wer schießt die Tore?
Genau dieselbe Frage wurde übrigens schon vor vier Jahren gestellt, als auch die Vegas Golden Knights eher auf Qualität in der Tiefe, statt in der Spitze setzten. Damals erlebten Spieler wie William Karlsson, Jonathan Marchessault oder Reilly Smith eine regelrechte Leistungsexplosion. Auf einen ähnlichen Effekt dürfte nun auch Seattle hoffen. Zum Trumpf soll wie schon damals bei den Knights die Moral werden. Vegas hatte die Mentalität der verstoßenen Außenseiter regelrecht zelebriert. Die Spieler wollten ihren Ex-Klubs in jeden Spiel zeigen, dass es ein Fehler war, sie nicht zu schützen. Mit Erfolg: Damals drangen die Golden Knights völlig überraschend bis ins Stanley Cup Finale vor (1:4 gegen die Washington Capitals).
„Wir haben definitiv eine Menge Charakter“, betont deshalb auch Eberle und hofft angesichts eines tief besetzten Kaders auch auf den Faktor Konkurrenzkampf: „Es dürfte ein umkämpftes Training Camp werden. Genau das willst du. Für jeden ist es ein Neustart, eine einmalige Erfahrung, aber bei jedem Neuanfang musst du dir deinen Platz verdienen. Diese Wettbewerbsfähigkeit bekommst du in den Camps. Ich denke, darauf lässt sich ein Team aufbauen.“
Verteidigung: Giordano, Dunn und Larsson sollen die Abwehr tragen
Für ihre Verteidigung wählten die Kraken mit Mark Giordano (37) den Kapitän der Calgary Flames aus, der auch in Seattle in eine Führungsrolle schlüpfen soll. Definitiv als Abwehrchef, womöglich auch mit dem „C“ auf dem Trikot. Den Defensiv-Kern komplettieren Vince Dunn(St. Louis Blues), Adam Larsson (Edmonton Oilers) und Jamie Oleksiak (Dallas Stars). Die talentierten Jérémy Lauzon (Boston Bruins) und Carson Soucy (Minnesota Wild) könnten die D-Corps komplettieren.
Insgesamt haben die Kraken an der blauen Linie so eine gute Mischung aus Größe, Stärke und Mobilität – allerdings fehlt es auch in diesem Mannschaftsteil an Firepower.
Tor: Drieger oder Vanecek – das ist hier die Frage
Auch die Kraken-Entscheidungen auf der Goalie-Position waren durchaus überraschend. So wählte Seattle keinen fertigen Starter, sondern investierte in entwicklungsfähige Torhüter: Chris Driedger (Florida Panthers), Vitek Vanecek (Washington Capitals) und Joey Daccord (Ottawa Senators) bilden das Dreigespann in der Smaragdstadt. Während Daccord wohl als Nummer 3 vorgesehen ist, dürften sich Drieger und Vanecek um die Position des Starters streiten.
Auch das ist eine Entscheidung, die nicht frei vor Risiken ist. Vegas hatte damals mit Marc-André Fleury einen erfahrenen Starter, der später zum Publikumsliebling und Playoff-Monster avancieren sollte.
Nachjustierungen in den nächsten Tagen möglich
„Wir freuen uns auf die Spieler, die wir haben“, sagte Seattles General Manager Ron Francis, betonte aber auch: „Es gibt viele Gelegenheiten, unser Lineup in den nächsten Monaten zu optimieren und wir freuen uns auf die Möglichkeit, dies zu tun.“
Das Risiko und der Mut der Kraken im Expansion Draft wird immerhin mit reichlich verbleibenden Gehaltsspielraum belohnt. Von diesem wird Seattle wohl in den nächsten Tagen Gebrauch machen: Mit Spieler-Trades und Free-Agent-Signings könnte sich der Liga-Neuling noch die dringend benötigte Qualität in der Spitze hinzuholen.
„Ja, das wird unser Plan sein: Vielleicht wird es Spieler geben, die geschützt waren und jetzt trotzdem verfügbar sein werden. Wir werden also definitiv schauen, wer ab dem 28. verfügbar sein wird. Hoffentlich können wir noch mehr Spieler dazu bringen, sich uns anzuschließen. Es gibt auch noch die Möglichkeit, dass es ein Spieler aus dem Draft direkt in die Aufstellung schafft“, so Francis. Die Kraken halten das 2nd-Overall-Pick im Entry Draft 2021.
Im Rahmen des Expansion Drafts wurde übrigens kein einziger Trade durchgeführt. Das war 2017 noch anders, als sich die Golden Knights diverse Draftpicks und Spielergeschenke zusätzlich sichern konnten. „Ich denke, beim letzten Mal waren die GMs eher bereit, zu viel zu bezahlen, um bestimmte Spieler zu schützen“, erklärte Francis. „Jetzt haben sie daraus gelernt und den Fehler kein zweites Mal gemacht.“
Ein Derby als Home Opener
Bis zum ersten NHL-Spiel könnte sich das Gesicht der Kraken also noch verändern. Die Premiere steigt am 12. Oktober auswärts bei den Vegas Golden Knights. Das erste Heimspiel in Seattle wird dann direkt ein Lokalderby sein: Am 23. Oktober geht es gegen die weniger als 200 Kilometer entfernt beheimateten Vancouver Canucks.
Bis dahin soll auch die Climate Pledge Arena fertig renoviert sein. Bis dahin werden die Vorbereitungsheimspiele in anderen Stadien im US-Bundesstaat Washington ausgetragen.